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Edersee

Wo die Liebe hinfällt

Copyright Eye Icon© Udo Bernhart

Mit dem Boot über den Edersee

Es gibt Orte, die einen nie wieder loslassen. Graziella dachte immer, dass dieser Ort irgendwo am Meer liegen würde. Bis sie nach Hessen an den Edersee kam – und bisher nicht wieder wegging. Bei einer Bootstour auf dem Stausee kommt sie dem Geheimnis seiner Anziehungskraft auf die Spur

 

Es ist ein warmer Frühlingstag. Bis auf die frische, klare Luft erinnert nichts mehr an den Regen der vergangenen Wochen. Trotz des guten Wetters ist es morgens noch still am Edersee, einem der größten Stauseen Deutschlands. Für Johannes Peil und seine Kollegen vom Bootsverleih Edership heißt es noch einmal Luft holen, bevor es mittags oftmals zügig gehen muss. Doch noch können sie sich Zeit lassen für ihre ersten zwei Gäste, die gerade eintreffen. Leinenblusen, Sonnenbrillen und auf ihren Köpfen wippende Sonnenhüte – mit ihren sommerlichen Outfits würden Graziella und ihre Freundin Kinga auch bestens an die Côte d’Azur oder an die Italienische Riviera passen. Johannes, dessen sonnenbraune Haut verrät, dass es nicht seine erste Saison ist auf dem Edersee, führt sie über den Steg zur Kajütyacht Deltic, ein Motorboot, das schaukelnd im Wasser auf sie wartet. Sechs Personen hätten auf diesem strahlend weißen Boot Platz. Doch heute wollen sich die beiden Freundinnen eine Auszeit nur zu zweit gönnen. Während Graziella schon mal hinters Steuer klettert und sich mit den wenigen Hebeln und Knöpfen vertraut macht, schlüpft Kinga aus ihren Sandalen und macht es sich mit ausgestreckten Beinen auf der gepolsterten Rückbank bequem.

Einen Führerschein müssen die beiden für ihre Bootstour auf dem Edersee nicht mitbringen. Es kann also direkt losgehen. Volle Kraft voraus – Graziella schiebt den Schalthebel weit nach vorne und spürt sofort den frischen Fahrtwind im Gesicht. Der morgendlichen Stille kann Graziellas Manöver nichts anhaben, denn die Boote auf dem Edersee fahren mit Elektromotoren. Die Kontrollleuchte zeigt eine volle Ladung an. Damit können die beiden den ganzen Tag unterwegs sein – selbst wenn Graziella weiterhin Gas gibt und bis ans andere Ende nach Herzhausen fährt, eine Tour, die nur bei Vollstau möglich ist. 

Doch vorerst lassen sie es ruhig angehen. Graziella lenkt nach Steuerbord, also nach rechts, und lässt die Staumauer hinter sich. „Heute sieht er aus, als würde er gleich überlaufen“, Graziella kennt die Eigenheiten des Edersees, der seine Wasserlandschaft je nach Staumenge verändert. Bei niedrigem Wasserstand tun sich kleine Inseln und krumme Bäume im Wasser auf. Und noch etwas anderes gibt der See dann preis: drei alte Brücken, Grabsteine und Reste von Hausmauern befinden sich auf seinem Grund. Um in den Sommermonaten die Schifffahrt auf der Weser zu gewährleisten und das Gebiet vor Hochwasser zu schützen, wurde vor über hundert Jahren die 400 Meter lange Edertalsperre gebaut. Drei Dörfer mussten damals weichen, sie wurden an höher gelegenen Stellen wieder aufgebaut. In Vergessenheit geraten sind die ehemaligen Dörfer nicht. Das "Atlantis vom Edersee“ wird bis heute in Stand gehalten. Wenn der Wasserstand tief genug ist, kann man durch das ausgetrocknete Seebett wandern und die ehemaligen Dörfer besichtigen.

Und noch eine Besonderheit umgibt den zirka 27 Kilometer langen Edersee, dessen viele Biegungen und Windungen vom natürlichen Flusslauf der Eder geformt wurden: der alte Buchenwald des Nationalparks Kellerwald-Edersee, der hier seit der letzten Eiszeit beständig wächst. Gemeinsam mit vier weiteren Buchenschutzgebieten wurde der jahrtausendealte Buchenwald 2011 von der UNESCO zum Weltnaturerbe erhoben. Seine natürliche Grenze hat der Wald an den Steilhängen gefunden, die Teil der Mittelgebirgslandschaft Nordhessens sind. Dort zeigen sich die zu dieser Jahreszeit frühlingsgrünen Buchen als knorrige Gestalten. „Fast mystisch sehen sie aus,“ Graziella liebt diesen Anblick. Und auch sonst verbindet sie viel mit dem Edersee und der Landschaft, die ihn umgibt. „Als ich zum ersten Mal herkommen bin, habe ich mich sofort in den Edersee verliebt,“ erinnert sie sich. Dabei wollte sie am Anfang gar nichts von ihm wissen. „Urlaub am See konnte ich mir nie vorstellen. Mein Freund musste ganz schön Überzeugungsarbeit leisten.“ Graziellas große Liebe war das Meer. Dorthin wollte sie auch irgendwann einmal ziehen. Später, wenn die Zeit reif ist. Doch dann kam eben doch alles anders. „Auf einmal wusste ich, wo ich hingehöre und dass man sein Glück nicht aufschieben sollte.“ Seit nun fast vier Jahren wohnen Graziella und ihr Freund in der Nähe des Stausees. Aus ihrer Leidenschaft für den Edersee und Umgebung hat Graziella sogar einen Beruf gemacht: Als Social Media Managerin für die Edersee Touristic sorgt sie dafür, dass möglichst viele Menschen um die Schönheit des Stausees wissen.

Allmählich wird es umtriebiger auf dem Edersee. Die Mittagszeit bringt Wind. Er treibt Wolkenbänder über den See und lässt Segelboote Kurs aufnehmen, die schräg im Wasser liegend ihre großzügigen Runden drehen. In einem mit gelben Bojen gekennzeichneten Bereich lassen sich Wasserski-Sportler über den See ziehen. Und in Ufernähe bewegen sich Kanu- und Kajakfahrer paddelnd durchs Wasser. Badegäste gibt es zu dieser Jahreszeit noch wenige. Es wird wohl noch ein paar Wochen dauern, bis die Wassertemperatur auf über 20 Grad klettert und den Edersee zu einem beliebten Badeort machen wird. 

Für Graziella und Kinga ist es Zeit für eine Mittagspause. Sie haben mittlerweile Rehbach erreicht, ein kleiner Ort, der an den Nationalpark Kellerwald-Edersee grenzt. In der Nähe des Anlegestegs schaltet Graziella den Motor aus und lässt das Boot treiben. Bis auf das sanfte Gelächter, das von den umliegenden Cafés und Restaurants zu ihnen aufs Wasser dringt, bleibt es still. Es ist, wonach sie gesucht haben. Die beiden bleiben an Bord. Graziella, die neben ihrem Beruf als Touristikerin einen eigenen Foodblog betreibt, hat eine Überraschung mitgebracht: Aus einem Picknickkorb zaubert sie Brötchen und eine liebevoll dekorierte Käseplatte, die sie gemeinsam mit frischem Obst auf dem Tisch drapiert. Graziella und Kinga lassen sich Zeit für ihr zweites Frühstück unter freiem Himmel. 

 

Dann ist es Zeit für den Rückweg. Graziella schiebt sich noch eine Erdbeere in den Mund, bevor sie sich für die letzte Etappe hinters Steuer klemmt. Begleitet vom leisen Surren des Elektromotors folgen sie den felsigen, waldbewachsenen Hängen und nehmen Kurs auf Hemfurth-Edersee, dem Ausgangspunkt ihrer Bootstour. Das Licht der Nachmittagssonne fällt auf die Staumauer, deren Anblick Graziella jedes Mal aufs Neue beeindruckt. „Vor allem bei Dunkelheit, wenn sie in unterschiedlichen Farben beleuchtet wird und dem See einen völlig anderen Charakter verleiht.“ Graziella überlegt kurz und fügt hinzu: „Vielleicht ist es ja auch die Vielfältigkeit des Sees, die mich so fasziniert an ihm.“ Sie haben wieder festen Boden unter den Füßen. „Vorerst“, meint Johannes, der ihnen beim Anbinden des Bootes hilft. Ob er wohl ahnt, dass Graziella bereits ihre nächste Auszeit auf dem Edersee geplant hat?

Wie Du Deinen ganz persönlichen Seemoment am Edersee erlebst, erfährst Du hier