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Land in Sicht:

Eine Kanutour auf der Werra, einem ehemaligen Grenzfluss

Copyright Eye Icon© Udo Bernhart

Kanutour auf der Werra

Vom Wasser aus betrachtet, sieht die Welt ganz anders aus – schöner, aufregender, intensiver. So ist auf der 22 Kilometer langen Kanutour von Kleinvach bis Wendershausen jeder Moment ein Erlebnis. Eine Wasserwanderung durch das Werratal.

Ein Zweig piekst mir ins Gesicht. Er ist nicht der erste, der mich streift, sticht oder mir in den Haaren hängen bleibt, und es wird auch nicht der letzte sein. Ich wusste, es war eine Fehlentscheidung, den vorderen Sitz im Kanu zu nehmen, aber vorne sieht man einfach mehr. Auch das Steuern kann ich nur schwer meiner Mitfahrerin Leni überlassen. Immer wieder versuche ich heimlich, mitzulenken und steuere uns dadurch zielsicher in den nächsten tiefhängenden Baum.

Leni, die wie ich zum ersten Mal an einer Kanutour teilnimmt, kann sich vor Lachen kaum noch im Sitz halten. Und auch ich kichere vor mich hin, während wir unser grünes Kanu im Zickzack über die Werra paddeln. Wir fahren heute von Kleinvach nach Wendershausen, eine 22 Kilometer lange Strecke, die an einem Tag gut machbar ist. Die Boote unserer Mitabenteurer, die anders als wir nicht ständig im Unterholz landen, sind längst nicht mehr zu sehen. Kein Wunder, die Werra hat heute ein ganz schönes Tempo drauf. Mit sechs Stundenkilometern strömt der knapp 300 Kilometer lange Wiesenfluss vom Thüringer Schiefergebirge durch das Werratal bis nach Hann. Münden, wo er in die Weser mündet.

Wir paddeln heute durch den Geo-Naturpark Frau-Holle-Land, einen über 100.000 Hektar großen Naturpark, der reich an Geotopen und seltenen Pflanzen- und Tierarten ist. Auch auf Rad- und Qualitätswanderwegen könnte man die Landschaft erkunden, die vor allem im Frühsommer ein buntes Blütenkleid nach dem anderen trägt. Im April, wenn die über 100.000 Kirschbäume blühen, färbt sich die Welt rund um Witzenhausen weiß. Im Juni und Juli erstrahlen die Mohnfelder um Grandenborn und Germerode in zartem Pink. Die Kirsch- und Mohnblüte des Naturparks ist so außergewöhnlich, dass sie mit Veranstaltungen wie Fotowettbewerben und oft schon lange im Voraus ausgebuchten Planwagenfahrten zelebriert wird. Schön ist es aber auch im Mai, wenn goldgelb die Rapsfelder leuchten.

Endlich aufgeholt

An einem Anleger vor Bad Sooden-Allendorf entdecken Leni und endlich die angebundenen Kanus der Gruppe. In einem sitzt Bettina Wettengel, die Naturführerin, die heute mit uns unterwegs ist. „Die anderen sind zu Fuß auf Entdeckungstour“, ruft sie uns zu. Zwei aus der Gruppe treffen wir an der langen Buntsandsteinmauer, die von der St. Crucis-Kirche bis ins Ortszentrum verläuft. Die anderen erforschen gerade die Gassen des kleinen Städtchens mit den bunten Fachwerkhäusern. Die ehemalige Salzsiederstadt ist heute ein Kurort mit Gradierwerk, WerratalTherme, viel Ruhe und wunderbar wohltuender Luft. Tief atme ich sie ein.

Nach dem Landgang passieren wir den reizvollsten Flussabschnitt der Tour. Direkt am Ufer von Bad Sooden-Allendorf steht eine Reihe süßer, kleiner Häuschen in allen möglichen Stilarten: Einige sind aus blauem und braunem Fachwerk, andere aus Stein oder mit beigefarbenen Ziegeln verkleidet. Alle haben einen kleinen Garten, der bis an das Ufer reicht. Efeu und weiß blühende Hängepflanzen ranken über niedrige Steinmauern und Holzzäune. In einem Garten hängt eine Lichterkette, vor einem anderen treibt ein festgemachtes Boot in der leichten Strömung. So romantisch! Besonders abends muss es hier traumhaft sein.

 

Abenteuer Schleuse

Die Werra, die bei Kleinvach noch um die 50 Meter breit war, wird bei Bad Sooden-Allendorf immer schmaler. Mehrere für Boote unpassierbare Seitenarme zweigen vom Hauptkanal ab und bilden parallel zur Werra einen zweiten Kanal, der aber etwas tiefer liegt. Auf den müssen wir wechseln. Es gibt eine Schleuse. Skeptisch gucken wir auf den Kanal in der Tiefe. „Schleusen oder umtragen?“, fragt Bettina in die Runde. Tja: Lange müssten wir die Kanus zwar nicht tragen, dafür sie sind ziemlich schwer. Und das Schleusen ist bestimmt aufregend. „Schleusen!“, rufen wir.  

Bettina, die oft mit ihrem Kanu auf der Werra unterwegs ist, gibt als Expertin die Anweisungen. „Komm mal mit“, sagt sie zu mir. „Die anderen bleiben in den Booten“. Dann gibt Bettina Leni und den anderen Mitfahrenden ein Zeichen. Vorsichtig fahren diese mit ihren Kanus in die offene Schleuse ein. „Bindet euch bloß nicht mit den Seilen fest“, warnt Bettina. „Ihr könntet umkippen!“. Mit einer Handkurbel schließen Bettina und ich nun die hinteren Schleusentore und öffnen anschließend die Hubtore der vorderen Schleuse. Durch diese Hubtore fließt jetzt reichlich Wasser in den Kanal ab, der Schleusenpegel sinkt und mit ihm die Kanus, bis der Wasserstand des Kanals erreicht ist. Nun kurbeln wir die großen Flügeltore der vorderen Schleuse auf und steigen wieder zu unseren Freunden in die Kanus. Es kann weitergehen.

Grenzerfahrungen

Nur das Glucksen des Flusses und das regelmäßige Platschen der eintauchenden Paddel ist zu hören. Seit unserer Schleusen-Erfahrung sitze ich mit Bettina im Boot und kann mich ganz auf die Natur konzentrieren. Ich genieße den Frieden, bin wie gebannt von der Szenerie. Dunkel und samtig gleitet das Wasser unter uns dahin. Die Uferbäume beugen sich so tief über die Schilfgürtel, als wollten sie uns in die Augen sehen. Hin- und wieder surrt ein Fahrradfahrer den Werratal-Radweg entlang und immer mal wieder gerät auch eine Kuh ins Bild und vervollständigt das Landidyll. Wir paddeln an kleinen Dörfern vorbei und können einmal den Blick auf zwei Burgen gleichzeitig genießen – die Burgruine Hanstein drüben in Thüringen und die Burg Ludwigstein mit ihrem hohen, runden Turm.

 „Das Werratal war schon immer Grenzland,“ erzählt Bettina. „Heute verläuft die Grenze zwischen Hessen und Thüringen ganz unauffällig durch die Landschaft und von Wahlhausen bis Lindewerra sogar mitten im Fluss. So friedlich war das aber nicht immer.“ Burg Hanstein und Jugendburg Ludwigstein bezeugen in der Tat die feindliche Gesinnung zwischen den Mainzer Erzbischöfen und den Kasseler Landgrafen. Ende des 19. Jahrhunderts verlief die Grenze zwischen dem Königreich Preußen und dem Kurfürstentum Hessen entlang der Werra. Und auch die innerdeutsche Grenze wurde nach dem zweiten Weltkrieg durch das Tal gezogen. „Das war damals schlimm für die Menschen. Nur die Anwohner durften den Grenzstreifen betreten, es gab Ausgangssperren, Menschen mussten ihre Dörfer verlassen.“ Heute weist nur noch wenig auf die Grenzvergangenheit des Werratals hin. Hast Du schon einmal etwas vom Nationalen Naturmonument Grünes Band Hessen gehört? Hierbei handelt es sich um einen vorwiegend unberührten Korridor in der Natur, der unter anderem zur Erinnerung der historischen Vergangenheit dient. Darunter der auffallende Waldstreifen, der kurz hinter Lindewerra mitten über den Bergrücken zieht.

Märchenhafter Wohnsitz

Von hier sind es nur noch knapp fünf Flusskilometer bis an unser Ziel. Höchste Zeit für die Frage, wieso der Naturpark, durch den wir da gerade gleiten, eigentlich Frau-Holle-Land heißt. Bettina freut sich über die Frage. „Das liegt daran, dass der Hohe Meißner der Wohnsitz unserer Frau Holle ist.“ Rund um den höchsten Berg der Region werden rund 20 Orte mit der Märchengestalt in Verbindung gebracht. Der Frau-Holle-Teich zum Beispiel, der Sage nach Eingang zu ihrem unterirdischen Reich, oder die Kalbe, eine mittlerweile von einem See überschwemmte Wiese, auf der Frau Holle ihre Kälber grasen ließ. „Die meisten kennen Frau Holle aus dem Märchen der Gebrüder Grimm, aber eigentlich ist sie eine viel ältere Sagengestalt, wurde früher als Göttin verehrt und ist bis heute unsere Schutzpatronin.“